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Klapperzahns Wunderelf
Folge 4

„Gestatten Sie, Mister Allenby, nur noch ein Wort, was meinen Ihre Leute zu der Besucherzahl?“ „Vor einer Viertelstunde bekam ich von den Kassen die Meldung, daß heute alle bisherigen Rekorde mit 160 000 Zu­schauern übertroffen wurden.“ „Und wie stehen die Wetten?“ „Drei zu eins für Huddersfield. Wir müssen gewinnen. Das ist unsere nationale Pflicht. Good-bye!“ „Vielen Dank, Mister Allenby.“ „Leben Sie wohl, Cormick. Auf Wiedersehen!“ Der Klubvorsitzende Allenby schüttelte seinem alten Freund Cormick, dem Redakteur von „New Sporting Life“, herzlich die Hand. Dann setzte er sich an die Logenbrüstung, während Cormick in einem Korridor verschwand.
Unendlich lang schien dieser Gang, durch den jetzt Tausende aufgeregter Menschen strömten. Cormick schlängelte sich geschickt zwischen ihnen durch, bog an der Treppe zu den offenen Tribünen ab, stieg nach oben und lief die letzte Sitzreihe entlang. An ihrem Ende war eine kleine Tür in der Holzverschalung. Cormick zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf und betrat einen kleinen Balkon an der Außenwand der Tribüne. Unter ihm lag ein großer, grüner Rasenvorplatz, auf den drei breite Zufahrtsstraßen mündeten. Der Platz glich mit den vielen Menschen und Fahrzeugen einem riesigen wimmelnden Ameisenhaufen. Dicke Trauben stauten sich an den elf Eingängen. Die Luft war erfüllt vom erregten Geschrei der tausendköpfigen Menschenmenge und dem ohrenbetäubenden Lärm der Autohupen. Wie endlose Schlangen rollten auf den drei Zufahrtsstraßen Autokolonnen, Droschken und Autobusse zum Stadion.
Cormick blickte eine Weile auf das flimmernde Gewimmel, dann schloß er die Tür hinter sich ab und kletterte auf das Balkongeländer. Vor ihm, an der Mauer der Tribüne, war eine Feuerleiter. Cormick kletterte an ihr hinauf und gelangte auf das riesige, nur mäßig geneigte Dach der Tribüne, das in der prallen Sonne glühte. In der Mitte ragte ein Fahnenmast in den Himmel. Dorthin lenkte Cormick seine Schritte. Neben der Fahnenstange stand ein Stuhl mit einem Telefon. Cormick stülpte sich Kopfhörer über, die mit einem kleinen Mikrofon verbunden waren. Eine Leitung führte zum Fahnenmast und von dort in die etwas weiter entfernte Telefonzentrale. Am anderen Ende der Leitung war die Redaktion von „New Sporting Life“ angeschlossen. Dort saß an einem kleinen Tisch ein junger Bursche, ebenfalls mit Kopfhörern ausgerüstet, vor einer Schreibmaschine. Einige Männer saßen gelangweilt in Klubsesseln herum. Alle warteten darauf, daß Cormick seine Reportage telefonisch durchgab. Auf einem zweiten Tisch lag eine Glasscheibe. Darauf sollte ein Schreiber den Verlauf des Spieles in Stichworten festhalten, damit man die Nachrichten durch ein verdunkeltes Fenster gleich der Öffentlichkeit bekanntgeben konnte, denn vor der Redaktion warteten schon Hunderte von Menschen auf die ersten Berichte.
Cormick rückte sich den Stuhl zurecht und setzte sich nahe an den Rand des Daches. In der Tiefe leuchtete das satte Grün des gepflegten Rasens, von dem sich die weißen Markierungslinien deutlich abhoben. Ringsumher auf den Tribünen ballten sich die Zuschauermassen zu riesigen schwarzen Klumpen. Zwischen den Tribünen und dem Spielfeld standen etwa hundertdreißig Schutzleute wie festgewurzelt, in genau fünfundzwanzig Schritt Abstand wie sonderbare dicke Meilensteine. Auf dem Rasen hinter den beiden Toren saßen oder standen die Pressefotografen. Cormick genoß mit Kennerblick dieses prächtige Bild und stellte fest, daß es vollkommen war. Dann lehnte er sich bequem auf dem Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander, entnahm einem Futteral ein ausziehbares Fernrohr, stellte es scharf ein und begann sein langes, langes Telefongespräch:
„ Hallo, Atkinson, guten Tag! ... Können Sie mich gut verstehen? ... Das Knattern? Das sind die Fahnen über mir. Sie werden sich schnell daran gewöhnen. Sie schlagen heftig aneinander, denn hier oben weht ein kräftiges Lüftchen. Aber hier sitzt man wesentlich besser als unten in der drückenden Hitze. Und das wichtigste, hier kann mich niemand beim Telefonieren stören. War eine glänzende Idee! ... Sagen Sie Fred, daß er seine Wette verloren hat. Vor einer Viertelstunde hat man den hundertsechzigtausendsten Zuschauer eingelassen. An allen Schaltern stehen noch lange Menschenschlangen. Wenn Sie ein schreckliches Getöse hören, dann teilen Sie bitte dem Publikum mit, daß die Tribünen unter dem ungeheuren Andrang zusammengebrochen sind. Ich fürchte, das werde ich Ihnen nicht mehr berichten können, denn wenn ich vierzig Meter tief hinunterstürze, dürfte die Leitung nicht mehr reichen! . .. Können wir jetzt anfangen ... Bitte! Die Einleitung habe ich bereits schriftlich abgeliefert. Bitte, lesen Sie sie mir zur Kontrolle noch einmal vor.“
Cormick verstummte und lauschte dem Geräusch im Kopfhörer. Nach ein paar Minuten fuhr er fort:
„ Gut so. Das kann so bleiben. Alles ist so, wie ich es mir ausgemalt habe. Nur statt 170 000 schreiben Sie 180 000. In der letzten halben Stunde sind mindestens 20 000 Menschen hinzugekommen ... Hallo! Achtung! Bitte, schreiben Sie, ich diktiere:
Zehn Minuten nach siebzehn Uhr. Im riesigen Stadion bricht ein nicht enden wollender Beifall aus. Die Tür unten in der Nordtribüne öffnet sich, und die elf Helden von Huddersfield kommen im Laufschritt aufs Feld. Wie immer, an der Spitze der lächelnde Winnipeld, am Schluß der riesige Clark. Es ist eine Lust, diese zweiundzwanzig trainierten Beine und die mächtigen gewölbten Brustkörbe unter den blau-weiß gestreiften Jerseys zu sehen. Brausender Jubel der englischen Zuschauer begrüßt diese Blüte unserer Nation, die berufen ist, den Ruhm und die Weltgeltung der britischen Farben auf dem grünen Rasen erfolgreich zu verteidigen. Niemand bezweifelt, daß der Ligameister unsere Erwartungen nicht enttäuschen wird. Drei gegen eins stehen die Wetten, und gegen Huddersfield haben nur Ausländer und Leute . . . Leute . . . Warten Sie, stop. Diesen Satz bitte strei­chen, ich mache am Ende einen besonderen Absatz daraus... Haben Sie ihn schon gestrichen? Ich diktiere weiter:
Soeben öffnet sich die Tür des Klubgebäudes zum zweiten Male, und der tschechische Meister tritt heraus. Auch er wird von dem reifen Publikum mit Beifall begrüßt, der aber bald der natürlichen Neugier weicht.
Das sind also die berühmten Sportler, die uns die kleine, ehrgeizige Republik im Herzen Europas geschickt hat und die ihr Weltruhm erobern sollen. Welch seltsame Vorstel­lung: elf Brüder, deren angebotene geschwisterliche Gefühle dazu geführt haben, sich zu solch einer einzigartigen Kombination‚ zu einer geschlossenen Gesamtheit zu verbinden. Auf den ersten Blick ist nichts besonders Auffälliges an ihnen zu entdecken. Ihre beinahe kleinen Gestalten können sich keineswegs mit den Athleten von Huddersfield messen. Es scheint, sie sind etwas gerührt vom Eindruck der überfüllten Tribünen. Sie laufen in einer dichten Traube aufs Feld, als wollten sie sich mit diesem Zusammenschluß einander noch einmal Mut einflößen ... Der Schiedsrichter Surry geht ihnen entgegen. Auch Kapitän Winnipeld löst sich aus seiner Mannschaft und begrüßt die tschechoslowakischen Gäste.
Hallo! Achtung! Eine große Überraschung! Schreiben Sie einen neuen Zwischentitel: Seine Majestät der König. Haben Sie? Machen Sie jetzt einen Absatz. Ich diktiere:
In diesem Augenblick ertönt neuer ungeheurer Applaus im Stadion. Am Fahnenmast der Nordtribüne wird die große Flagge des Königshauses von Windsor gehißt. Soeben öffnet sich die Tür der Mittelloge, und Seine Majestät der König und die Königin, begleitet vom Prinzen von Wales, betreten die Loge. Die Klubdirektoren, G. W. Allenby an der Spitze, begrüßen die erlauchten Gäste. Die königliche Familie dankt den Zuschauern für die begeisterten Ovationen. Der König begrüßt nun die Spieler, die sich vor seiner Loge zur Huldigung aufgestellt haben, und winkt ihnen zu. Jetzt nimmt er Platz, um dem größten Spiel der englischen Geschichte zuzusehen ...
Die Worte ‚Das größte Spiel der englischen Geschichte‘ bitte kursiv und halbfett auf eine neue Zeile als Zwischentitel. Haben Sie? Hallo! Ich diktiere weiter:
Die Mannschaft von Huddersfield gewinnt die Seitenwahl und spielt mit dem Wind im Rücken. Beklemmende Spannung und drückende Stille liegen über dem Stadion ... Mister Surry pfeift das Match an. Es ist genau siebzehn Uhr einund­zwanzig Minuten sechzehn Sekunden. Der Mittelstürmer der Klapperzahn-Elf gibt das Leder zum rechten Flügel. Charcot geht vor. Der Rechtsaußen gibt den Ball an den rechten Läufer weiter. Der englische Sturm läuft an der Fünferreihe der Klapperzahn-Elf vorbei nach vorn. Charcot holt den Läufer ein, bemächtigt sich des Balles ...
Hallo, nein, streichen Sie das. Weiß der Teufel, wie dieser Bursche das gemacht hat, aber er hat den Ball noch immer. Ich diktiere weiter:
Barring und Winnipeld eilen Charcot zu Hilfe. Schuß! Der Ball fliegt schräg nach vorn zum linken Flügel hinüber. Ein prächtiges Zuspiel. Direkt zwischen unsere Läufer und Verteidiger. Das Spiel verlagert sich auf die linke Seite. Wer ist zuerst am Ball? Der kleine tschechische Linksaußen im rot-weißen Jersey ist am Ball. Warsey ist da! Schade, schon zu spät! Abspiel zur Mitte. Viel zu hoch. Der Ball kommt in Magenhöhe, der Halblinke und der Mittelstürmer verfehlen ihn. Gorringer, der linke Verteidiger, hebt den Fuß. Nanu, woher kam der rechte Läufer? Mit einem geschickten Kopf­ball legt er den Ball dem Halblinken vor. Warsey!
O verdammt noch mal! Bums! Pfui Teufel! Erlauben Sie, daß ich erst einmal kräftig ausspucke. Wie? Ja! Es ist so. Beim Leibhaftigen, das war ein Schuß ... Das Publikum? Totenstille! Jetzt, jetzt erst beginnt es zu klatschen. Das war niederschmetternd! Naja, ein Tor ist ja noch nicht so schlimm ... Wie lange es gedauert hat? Es sind genau siebenundsechzig Sekunden seit dem Anstoß vergangen. Schreiben Sie:
Ein unheimlicher Schuß des linken Flügelstürmers, wie wir ihn auf einem englischen Fußballplatz seit zehn Jahren nicht gesehen haben. Bevor überhaupt Clark seine Hand heben konnte, war der Ball im Netz ...“
Cormick konnte es auf dem Dach vor Aufregung nicht mehr aushalten. Er mußte aufstehen und den Stuhl an eine andere Stelle setzen. Dann begann er wieder zu diktieren und die Angriffe der Engländer zu schildern. Er begeisterte sich an ihren Kombinationen, aber alle Augenblicke mußte er Atkinson ersuchen, die Flüche zu streichen, mit denen er die glänzenden Verteidigungsaktionen der Klapperzähne begleitete. Ja, einmal verstummte er ganz und gar, so daß ihn Atkinson aufrütteln mußte, in dem er zurückfragte, was eigentlich los sei. Völlig geschlagen gab Cormick zu, daß soeben England das zweite Tor hinnehmen mußte.
„ Es hilft nichts, Atkinson, wir müssen zugeben, daß die Tschechen uns überlegen sind. Teilen Sie mit, daß unsere Mannschaft guter Laune ist, daß sie den Ausgleicher herbeiführen wird, sonst verprügelt das Volk die Redaktion. Hallo! Noch zwei Minuten! Nach dem Abstoß gibt der englische Mittelstürmer den Ball zum linken Flügel. Ein Läufer stoppt ihn. Heftiger Kampf im Mittelfeld. Mit weiten Schlägen befördert die Verteidigung das Leder in die andere Hälfte. Charcot versucht einen Hackentrick, gibt den Ball nach vorn, Winnipeld läuft heran, er ist allein. Jetzt, jetzt! Er schießt! - Verdammt! Über die Latte! Verfluchtes Pech! Der Ball wird nach dem Abstoß zum rechten Flügel gespielt ... damit endet die erste Halbzeit.
Das Spiel steht zwei zu null gegen England, aber unsere Spieler sind frisch und werden in der zweiten Hälfte in einem großartigen Finale ihre ganzen Kräfte einsetzen. Die Zuschauer sind bitter enttäuscht, können aber nicht umhin, das vollendete Spiel unserer Gegner zu bewundern. Wahrhaftig, es ist keine Schande, von einer Mannschaft mit derartiger Spielstärke geschlagen zu werden. Seine Majestät der König ist offenbar erregt. Man erläutert ihm die Ursachen der Niederlage. Der Vorsitzende Allenby verläßt die Loge. Jetzt kehrt er zurück. In seiner Begleitung befindet sich ein sonderbarer Alter. Er wird Seiner Majestät dem König vorgestellt. Ja, das ist wohl der berühmte Vater der tschechischen Mannschaft. Ich werde mich sogleich dorthin begeben, um auszukundschaften, worüber man spricht.
Lieber Atkinson, ruhen Sie sich jetzt etwas aus, bis zum Beginn der zweiten Halbzeit werde ich wieder zurück sein. Nehmen Sie bitte noch zur Kenntnis, daß Seine Majestät der König überaus herzlich dem alten Herrn die Hand drückt.“
Cormick nahm die Kopfhörer ab, eilte über das Dach, glitt blitzschnell über die Leiter auf den Balkon und verschwand in der Menschenmenge, die in größter Aufregung auf den Tribünen lärmte und tobte.

 
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